Der Botschafter der Republik Südafrika in den Niederlanden Vusimuzi Madonsela (rechts) und der Minister für Justiz und Strafvollzugsdienste Südafrikas Ronald Lamola (Mitte) während der Eröffnung der Anhörungen vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag, Niederlande, am Donnerstag. 11. Januar 2024. (AP Photo/Patrick Post)

Am 29. Dezember 2023 reichte Südafrika in einem Eilantragsverfahren eine Anklage gegen Israel ein. Vor dem höchsten Gericht der Vereinten Nationen erheben sie schwere Vorwürfe gegen Israel, dass das Land die Völkermordkonvention verletzt habe. Die umfassende 84-seitige Klageschrift skizziert detailliert die Gewalttaten Israels gegen Palästinenser im Gazastreifen und charakterisiert sie als Handlungen, die den Merkmalen eines Völkermords entsprechen. Die Klageschrift hebt israelische Bombenangriffe, erzwungene Vertreibungen, Angriffe auf medizinische Einrichtungen wie Krankenhäuser und Geburtskliniken sowie die anhaltende Blockade der Region hervor, die zu einem erheblichen Mangel an lebensnotwendigen Ressourcen wie Nahrungsmitteln und Trinkwasser geführt hat. Südafrika fordert vor dem Gericht der Vereinten Nationen Gerechtigkeit für die Palästinenser und unterstreicht die Dringlichkeit, die mutmaßlichen Verletzungen der Völkermordkonvention durch Israel zu untersuchen und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Der Antrag forderte unter anderem die unverzügliche Beendigung des militärischen Einsatzes. Unterstützung für den Fall Südafrikas vor dem Internationalen Gerichtshof kommt von Ländern und Organisationen wie der Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIC), Malaysia, Türkei, Jordanien, Bolivien, Malediven, Namibia, Pakistan, die Arabische Liga, Kolumbien und Brasilien.

Am Donnerstag, den 11. Januar präsentierte Südafrika seine Argumente in der Anklage wegen Völkermords gegen Israel vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag.  

Zunächst wurden der südafrikanische Richter Dikgang Ernest Moseneke und der israelische Richter Aharon Barak durch die Präsidentin des Internationalen Gerichtshofs Joan Donoghue vorgestellt.

Die Eröffnungsrede wurde von Vusimuzi Madonsela, dem niederländischen Botschafter für Südafrika, gehalten. Nach einer Dankesrede an den Internationalen Gerichtshof machte er deutlich, dass Südafrika die “anhaltende Nakba durch die israelische Kolonialisierung seit 1948” sowie die systematische Diskriminierung und Apartheid anerkennt. Israel verweigere dem palästinensischen Volk sein international anerkanntes Recht auf Selbstbestimmung.

Südafrika erkennt unter anderem an, dass die von Israel begangenen Verbrechen jahrzehntelang völlig ungestraft blieben. Das Land befürchtet, dass ohne Intervention Konsequenzen sowohl für die Palästinenser in Gaza, die weiterhin einem Risiko weiterer Völkermordakte ausgesetzt sind, als auch für die Integrität der Konvention, die Rechte Südafrikas und den Ruf des Internationalen Gerichtshofs drohen.

Als nächstes sprach der Justizminister Südafrikas, Ronald Lamola. Er betonte, dass die Gewalt und Zerstörung nicht erst am 7. Oktober begonnen haben, sondern dass die Palästinenser seit 75 Jahren Unterdrückung erleben. Weiterhin zitierte er Nelson Mandela, indem er sagte, dass die Menschheit eine Einheit ist, und erklärte, dass Südafrika daher dem palästinensischen Volk die Hand reicht. In diesem Bewusstsein sei Südafrika 1998 der Konvention zur Verhütung und Bestrafung des Völkermordverbrechens beigetreten, und im gleichen Bewusstsein seien sie heute Teil dieses Gerichts. Diese Teilnahme sei eine Verpflichtung gegenüber allen. Lamola betonte, dass kein bewaffneter Angriff eine Rechtfertigung für die Verletzung der Völkermordkonvention darstellen könne.

Adila Hassim argumentiert, dass Israel gegen Artikel II der Konvention verstoßen habe, indem es Handlungen begangen hat, die die Definition von Völkermord erfüllen, und dabei ein systematisches Verhaltensmuster zeigt, welches auf Völkermord hindeutet. Sie präsentiert ein Bild, das den Gazastreifen zeigt, und hebt hervor, dass Gaza eines der beiden Gebiete der besetzten palästinensischen Gebiete ist, das seit 1967 von Israel kontrolliert wird. Trotz eines formellen Rückzugs im Jahr 2005 behält Israel weiterhin die Kontrolle über verschiedene Aspekte des Gazastreifens, einschließlich Luftraum, Hoheitsgewässer, Landübergänge, Infrastruktur und wichtige Regierungsfunktionen. Die Ein- und Ausreise nach Gaza ist beschränkt, wobei Israel die einzigen Grenzübergänge betreibt.

Die Palästinenser in Gaza seien nicht nur unmittelbarer Todesgefahr durch israelische Bombenangriffe ausgesetzt, sondern auch der Gefahr von Hunger, Dehydrierung und Krankheiten aufgrund der fortlaufenden Belagerung, der Zerstörung von Städten, der begrenzten durchgelassenen Hilfe und der Herausforderungen bei der Verteilung von Hilfsgütern während der Angriffe.

In ihrer Präsentation bezieht sie sich auf Videomaterial, das die entsetzlichen Zustände vor Ort in Gaza dokumentiert, einschließlich eines Hilfswagens, der von verzweifelten Zivilisten umringt ist. Sie stellt systematisch dar, wie Israels Verhalten gegen Artikel II(a), II(b), II(c) und II(d) des Völkermordübereinkommens verstößt. Zum Abschluss betont sie, dass nichts das Leiden stoppen könne, außer einem Befehl des internationalen Gerichts.

Der südafrikanische Anwalt Tembeka Ngcukaitobi erklärt, dass israelische Amtspersonen absichtlich und systematisch eine entmenschlichende Sprache verwenden, um die Rhetorik des Völkermords zu normalisieren. Ngcukaitobi verwies auf Premierminister Benjamin Netanjahus Anspielungen auf gewalttätige biblische Passagen („Amalek“) sowie auf Äußerungen des israelischen Verteidigungsministers. Dabei betonte er insbesondere ein Video, in dem israelische Soldaten zu sehen waren, wie sie die biblischen Passagen und Äußerungen Netanjahus wiederholten und ihre Angriffe enthusiastisch feierten.

Des Weiteren erklärte er, dass die betroffenen Palästinenser in Gaza während der Angriffe Israels keinen sicheren Zufluchtsort hatten. Sie wurden nicht nur in ihren Häusern, sondern auch in Einrichtungen wie Krankenhäusern, Schulen und Moscheen getötet, selbst wenn sie versuchten, Schutz zu suchen.

John Dugard, südafrikanischer Professor für internationales Recht, betonte, dass die Verpflichtungen aus der Völkermordkonvention “erga omnes” seien, das heißt, Verpflichtungen gegenüber der internationalen Gemeinschaft als Ganzes. Die Vertragsstaaten dieser Konvention seien nicht nur dazu verpflichtet, völkermörderische Handlungen zu unterlassen, sondern auch aktiv zu ihrer Verhinderung beizutragen. Dugard fügte hinzu, dass Südafrika versucht habe, die israelische Regierung über diplomatische Verbindungen zu kontaktieren, bevor es den Fall vor den Internationalen Gerichtshof gebracht hat.

Prof. Max du Plessis wies auf das Existenzrecht der Palästinenser hin und betonte die Bedrohung dieses Rechts durch Israel. Die gegenwärtige Situation solle nicht als “Konflikt zweier Parteien” dargestellt werden, sondern vielmehr handle es sich um langjährige Gewaltakte gegen die Palästinenser und eine fortlaufende Verletzung ihres Selbstbestimmungsrechts. Diese Verstöße ereignen sich in einer Welt, in der Israel sich als über dem Gesetz stehend betrachtet. Du Plessis unterstrich zudem, dass diverse Erklärungen von UN-Gremien, Experten sowie verschiedenen Organisationen, Institutionen und Staaten gemeinsam die Taten Israels als Völkermord betrachtet oder zumindest vor der Gefahr eines solchen Akts gegenüber dem palästinensischen Volk gewarnt haben. Auf Grundlage der dem Gericht vorliegenden Unterlagen könnten die von Israel beanstandeten Taten als zumindest versuchter Völkermord eingestuft werden. Der Beweis für die spezifische völkermörderische Absicht ergebe sich eindeutig aus den Aussagen israelischer Regierungsbeamter und Soldaten gegenüber den Palästinensern in Gaza und könne als zumindest eindeutig völkermörderisch betrachtet werden. Diese mindestens eindeutige völkermörderische Absicht lasse sich ebenfalls aus dem Verhaltensmuster gegenüber Palästinensern in Gaza ableiten.

Blinne Ni Ghralaigh, eine weitere Anwältin, die Südafrika vertritt, betonte vor dem Internationalen Gerichtshof, dass es notwendig sei, einstweilige Maßnahmen anzuordnen, um die Palästinenser in Gaza vor den irreparablen Schäden zu schützen, die durch die Verletzung der Völkermordkonvention durch Israel verursacht wurden. Sie hob hervor, dass weiterhin Zivilisten, darunter Frauen, Kinder, UN-Mitarbeiter und Journalisten, getötet würden. Die Gefahr einer Hungersnot nehme täglich zu, ebenso wie die Ausbreitung von Infektionskrankheiten aufgrund des katastrophalen öffentlichen Gesundheitszustands.

Prof. Vaughan Lowe KC listete die von Südafrika beim Internationalen Gerichtshof beantragten einstweiligen Maßnahmen auf. Diese beinhalten die sofortige Einstellung israelischer Militäroperationen in und gegen Gaza sowie die Unterlassung des Entzugs des Nahrungs- und Wasserzugangs. Die Maßnahmen umfassen auch humanitäre Hilfe für die Bevölkerung des Gazastreifens, einschließlich Treibstoff, Unterkünften, Kleidung, Hygiene, sanitären Einrichtungen sowie medizinischer Versorgung und Hilfe. Prof. Lowe argumentiert, dass Artikel 51 der UN-Charta, der das Recht auf Selbstverteidigung regelt, nicht auf den israelischen Krieg in Gaza anwendbar ist, da Israel seiner Meinung nach den Gazastreifen weiterhin besetzt und kontrolliert. Auf die Frage, warum Südafrika keinen Gerichtsbeschluss gegen die Hamas beantragt, antwortet er, dass die Hamas weder ein Staat noch eine Vertragspartei der Völkermordkonvention ist. Es existieren andere Gremien und Prozesse, die sich mit Schritten im Hinblick auf vergangene Taten gegen die Hamas befassen. Südafrika kann rechtlich gesehen vor dem UN-Gericht keinen Beschluss gegen die Hamas fordern. Außerdem gibt es keine Begründung für einen Völkermord. Abschließend erläutert er die Gerichtsordnung des Internationalen Gerichtshofs, die auf fünf Voraussetzungen für einstweilige Maßnahmen hinweist, und zeigt, wie der Fall Südafrika diese Anforderungen erfüllt hat.

Abschließend spricht Vusimuzi Madonsela das Schlusswort, in dem er dem Gericht erneut seinen Dank ausspricht. Es liege nun in den Händen des Gerichts, über die Angelegenheit und die Verurteilung eines Völkermords zu entscheiden.

Am Freitag, den 12.11.2024 wird Israel Gelegenheit haben, in der Anhörung Stellung zu nehmen. Zuvor hat die israelische Regierung die Vorwürfe bereits zurückgewiesen. Gleichzeitig wird Südafrika “kriminelle Mitschuld” an der Hamas, Verleumdungen und Heuchelei vorgeworfen[1]. Außenministerin Annalena Baerbock und stellvertretender Bundeskanzler Robert Habeck von den Grünen können die Anschuldigungen Südafrikas gegen Israel nicht nachvollziehen.[2]

Eine Entscheidung über den Eilantrag für vorläufige Maßnahmen wird in einigen Wochen erwartet.

Video zum Prozess: https://webtv.un.org/en/asset/k11/k11gf661b3


[1] https://www.reuters.com/world/middle-east/israel-face-gaza-genocide-charges-world-court-2024-01-11/

[2] https://www.juedische-allgemeine.de/politik/baerbock-aeussert-sich-zu-voelkermord-vorwurf-gegen-israel/