Der zweite Tag der Verhandlungen in Den Haag ist angebrochen, bei dem Südafrika Israel wegen Völkermord anklagt. Seit dem 7. Oktober wurden in Gaza fast 24.000 Menschen getötet, darunter fast 10.000 Kinder.[1] Tausende weitere liegen unter Trümmern und gelten als tot. Durch ein Eilverfahren strebt Südafrika an, eine sofortige Beendigung der Militäraktion herbeizuführen. Derzeit wird ausschließlich über dieses Verfahren verhandelt. Nachdem Südafrika am Donnerstag seine Argumente vorgebracht hat, hat Israel am Freitag seine Position dargelegt.

Die Eröffnungsrede wird von Tal Becker, dem Rechtsberater des israelischen Außenministeriums, gehalten. Zu Beginn seiner Rede bezieht er sich auf den Holocaust und verweist auf den jüdischen Juristen Ralph Lemkin, der den Begriff des Völkermords erschuf, da es keinen rechtlichen Terminus für das gab, was die Nazis verübten. [2] Südafrika versuche nun, sich auf diesen Begriff gegen Israels zu verwenden, obwohl er den Krieg nicht begonnen habe und nicht wolle. Becker beschreibt Israels Militäraktionen in Gaza als Akte der Selbstverteidigung gegen die Hamas und andere Organisationen. Er argumentiert, dass mögliche Handlungen, die als Völkermord betrachtet werden könnten, eher gegen Israel verübt wurden, und daher seien die Staaten in der Verantwortung, gegen die Hamas vorzugehen. Weiterhin sagt er, dass die Berücksichtigung des Antrags von Südafrika das Engagement zur Bestrafung von Völkermord schwächen und nicht stärken würde. Becker betont, dass das Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung aus der Strategie der Hamas resultiert. Die Forderung Südafrikas mache Israel wehrlos gegen die Hamas.

Als nächstes spricht Professor Malcolm Shaw, der die Ansicht vertritt, dass die Feststellung eines Völkermords erst möglich ist, wenn die klare Absicht besteht, eine bestimmte Gruppe zu vernichten. Dies sei trotz einiger „unspezifischen Kommentare von Premierminister Netanyahu, Verteidigungsminister Yoav Gallant und dem Minister für nationale Sicherheit Itamar Ben Gvir“[3] nicht vorhanden.  Es sei ein “verzerrtes Bild” über den Krieg und beschuldigt Südafrika „zufällige Zitate zu erstellen, die nicht im Einklang mit der Regierungspolitik stehen und bestenfalls irreführend sind.“ Er betont, dass nur die politischen Entscheidungen des israelischen Kriegskabinetts und des erweiterten Kabinetts entscheidend sind. Insbesondere sei das Sicherheitskabinett maßgeblich für die Festlegung der israelischen Politik im Gaza-Krieg verantwortlich, und Äußerungen einzelner Minister außerhalb dieser Gremien seien daher irrelevant für die Feststellung der völkermörderischen Absicht.  

In der Verteidigung Israels betonte Dr. Galit Raguan, dass die israelische Politik darauf abzielt, palästinensische Zivilisten zur Evakuierung aus Kriegsgebieten aufzurufen und gleichzeitig humanitäre Hilfe zu leisten. Diese humanitären Bemühungen umfassen Maßnahmen wie die Einführung neuer Krankenwagen in den Gazastreifen sowie die Bereitstellung von Nahrungsmitteln, Wasser und Medikamenten über die Grenzübergänge Kerem Shalom und Rafah. Raguan spricht weiter davon, dass die Hamas die zivile Infrastruktur in Gaza für militärische Zwecke nutzt. Es sei außerdem falsch, dass Südafrika über Israels Angriffe auf Krankenhäuser und Gesundheitseinrichtungen in Gaza spricht, ohne zu erwähnen, warum die IDF solche Operationen durchführte. Sie kritisiert auch die Behauptungen Südafrikas, dass Israels Warnungen an die Zivilbevölkerung, ihre Häuser zu evakuieren, ein Versuch seien, palästinensisches Leben in Gaza zu zerstören und daher als völkermörderischer Akt betrachtet werden sollten, dabei sei dies genau das Gegenteil und ziele auf den Schutz der Palästinenser ab.

Der israelische Verteidigungsberater Omri Sender sagt, dass der israelische Verteidigungsminister erklärt habe, dass Israel den Krieg allmählich in eine neue Phase überführt und eine “neue, weniger intensive” Kampfphase eingeleitet habe und die Truppenpräsenz im Gazastreifen reduziert werde. Er betonte auch, dass Israel bereits gemäß einer Sicherheitsratsmaßnahme mit einem UN-Koordinator kooperiere.

Nach diesen Argumenten ist Dr. Christopher Staker an der Reihe, der die neun einstweiligen Maßnahmen ablehnt, die Südafrika vor dem Gericht gegen Israel fordert.

Staker argumentiert, dass Südafrikas Antrag darauf abziele, die Hamas zu schützen und die Terrorgruppe möglicherweise dazu zu ermutigen, solche Verbrechen zu wiederholen. Er argumentierte außerdem, dass das Gericht dem Antrag Südafrikas auf eine Pause der israelischen Operation nicht stattgeben sollte, da der Gerichtshof kein Ende der militärischen Aktivitäten während des bosnischen Völkermords angeordnet habe.

Dr. Gilad Noam fasst die Verteidigung Israels zusammen und sagt, dass Israel alle seine rechtlichen Verpflichtungen erfüllt habe und dass jede der neun von Südafrika beantragten vorläufigen Maßnahmen „ungerechtfertigt und nachteilig“ seien. Südafrikas Verhalten sei zudem „unwahrhaftig“. Außerdem argumentierte er, dass die Anerkennung der Behauptungen Südafrikas terroristische Gruppen ermutigen und ihnen einen Vorwand liefern würde, künftige Verbrechen zu begehen. Würde Südafrikas Antrag auf einstweilige Maßnahmen stattgegeben, würde dies den Terrorgruppen signalisieren, dass sie terroristische Verbrechen begehen und dann Schutz beim Gericht suchen könnten. Er bezeichnete den Antrag Südafrikas als „zynischen Versuch“, die Bedeutung des Völkermords zu verzerren.

Die Reaktion auf den Prozess fällt äußerst negativ aus.  Der Sprecher des israelischen Außenministeriums nannte die südafrikanischen Anwälte „Vertreter der Hamas“, [4] und erhebt schwere Anschuldigungen. Ferner diskutieren verschiedene israelische Zeitungen über einen „südafrikanischen Israel- oder Judenhass“.[5] Es besteht eine deutliche Spannung in den Beziehungen zwischen den beiden Ländern aufgrund dieser Vorwürfe.

Es wird erwartet, dass der Internationale Gerichtshof in den kommenden Jahren eine endgültige Entscheidung treffen wird. Die Entscheidung über die Anordnung der vorläufigen Maßnahmen könnte jedoch bereits in den nächsten Wochen erfolgen.


[1]     https://www.unocha.org/publications/report/occupied-palestinian-territory/hostilities-gaza-strip-and-israel-reported-impact-12-january-2024-2359

[2]     Anm.: Maßgeblich für die Schaffung des Begriffs “Genozid” durch Lemkin waren eine Vielzahl von historischen Verbrechen. Erstmal war der Völkermord an den Armeniern einer der Schlüsselereignisse, das Lemkin dazu veranlasste, einen rechtlichen Begriff zu prägen.

[3]     https://www.timesofisrael.com/israel-rejects-genocide-claims-at-the-hague-says-south-africas-allegations-baseless/

[4]     https://www.haaretz.com/israel-news/2024-01-11/ty-article/.premium/south-africa-is-hamas-legal-arm-israel-blasts-distorted-icj-gaza-genocide-hearing/0000018c-f898-d30b-a59d-f8dec5b30000

[5]     https://www.jpost.com/opinion/article-781826; https://www.jns.org/they-back-palestine-because-they-hate-jews/; https://www.breitbart.com/africa/2024/01/12/why-south-africas-new-elite-hates-israel/; https://www.jpost.com/israel-hamas-war/article-780152