In Russland überschlagen sich derzeit die Ereignisse. Jewgeni Prigoschin, Chef der Söldnergruppe Wagner, ist zur offenen Meuterei übergegangen. Die Wagner-Gruppe ist eine nichtstaatliche paramilitärische Organisation, der etwa 25000-50000 Mann angehören. Nach der Stadt Rostow am Don haben die Wagner-Einheiten inzwischen auch die Stadt Woronesch unter ihre Kontrolle gebracht. Von dort bewegen sich Prigoschins Kämpfer Richtung Moskau, sie stehen gegenwärtig 340 km vor der Hauptstadt (Stand 24.6., 16 Uhr). In Moskau wird beobachtet, wie sich Militärfahrzeuge und Spezialeinheiten zum Kreml bewegen. Präsident Putin sprach in einer Rede von „Verrat“ und „Dolchstoß“. Im Zuge einer nun vom russischen Staat eingeleiteten „Antiterroroperation“ ist es offenbar zu ersten Kämpfen zwischen regulären russischen Truppen und Wagner-Einheiten gekommen.

Welche Motivation?

Was treibt Prigoschin zu seinem Handeln, nun überraschend die Machtfrage zu stellen? Bei der Beurteilung dieser Angelegenheit ist die Frage, wem das Ganze nützt (Cui bono?), stets von besonderer Bedeutung. In den deutschen Medien wird v.a. die Hoffnung geäußert, dass diese interne Auseinandersetzung Russland schwächen und gut für die Offensive der Ukraine sei. Manche „Experten“ wie Stefan Meister von der DGAP lassen ihre Unterstützung für Prigoschin erkennen, könne er doch das „System Putin“ beseitigen, also den lang erträumtem „Regime Change“ in Russland, an dem man im Westen schon lange arbeitet, verwirklichen.

Der vom Westen unterstützte sogenannte „Kremlkritiker“ Michail Chodorkowski hat sich am Samstag hinter die Meuterei der Söldnertruppe Wagner gestellt. Auf Facebook schrieb er, dass der Aufstand von Wagner-Chef Prigoschin der schwerste Schlag für das Ansehen des russischen Präsidenten Putin sei. Man müsse Prigoschin bei seinem Weg nach Moskau helfen, so Chodorkowski. Die Unterstützung für Prigoschin wäre im Westen auch die logische Konsequenz aus der dort erfolgten Dämonisierung des russischen Präsidenten. Zu Denken gibt auch der Zeitpunkt der Meuterei. Selbst westliche Medien hatten zuletzt über den ausbleibenden Erfolg der ukrainischen Medien berichtet. Diese Meuterei ist somit zum gegenwärtigen Zeitpunkt ein wahres Geschenk an die Ukraine bzw. an den Westen.

Die Kritik Prigoschins

Prigoschin, der mit seiner Kritik an der militärischen Führung, Korruption und Bürokratie in Russland auch Zustimmung gefunden hatte, weiß das natürlich. Seine Rhetorik hatte sich in den letzten Tagen auffällig verändert. Zunächst fällt auf, dass er plötzlich die ukrainische Darstellung über größere Erfolge ihrer Offensive übernahm, obwohl diese selbst im Westen auf Skepsis stieß. Noch auffälliger dagegen ist, dass er vor zwei Tagen den offiziellen Grund für das russische Eingreifen in Zweifel zog.

Er verteidigte plötzlich die NATO und fügte hinzu: “Der Krieg war notwendig, damit Schoigu den Titel eines Marschalls erhält. (…) Und nicht, um die Ukraine zu demilitarisieren und zu denazifizieren.” Außerdem hätten sich russische und prorussische Oligarchen Vorteile von dem Krieg erhofft. Das alles wirft die Frage auf, ob Prigoschin nur ehrgeizig ist und sich die Rückendeckung des Westens für seinen Aufstand holen wollte oder ob er einen Regime Change in dessen Interesse, möglicherweise mit Kontakten zu westlichen Diensten, durchführt.

Unterstützung für Putin kam dagegen vom tschetschenischen Führer Ramsan Kadyrow, der nun seine Truppen in die „Spannungsgebiete“ verlegen will. Tschetschenische Kämpfer des Verteidigungsministeriums und der Nationalgarde seien bereits auf dem Weg, so Kadyrow. Er fügte hinzu: „Der Aufstand muss niedergeschlagen werden und wenn harte Maßnahmen nötig sind, sind wir bereit dazu!“ Ausgerechnet Tschetschenien, das die Russische Föderation Anfang der 1990er Jahre schwer erschütterte, könnte nun entscheidend zu ihrer Rettung beitragen.