Seit Jahrzehnten gehört die Kopftuchfrage fest zur politischen Debatte der Türkei. Bei einer Bevölkerung von rund 90% Muslimen, wäre zu erwarten, dass solch eine wichtige Praxis innerhalb des Islams nicht infrage gestellt werden müsste. Dem ist allerdings nicht so. Die Republik Türkei definiert sich seit 1923 als säkular. Bis vor wenigen Jahren hielt man eine strikte Trennung von Religion und Staat aufrecht.

Während der letzten Jahre bewirkte die regierende Partei AKP eine institutionelle Öffnung in Hinblick auf das Kopftuch. Nun ging Präsident Recep Tayyip Erdogan einen Schritt weiter und schlug die Änderung der türkischen Verfassung vor. Dies möchte er tun, um das Recht der Frau auf das Tragen des Kopftuchs endgültig und ohne Einschränkungen zu gewähren. Dieser Vorschlag werde dem Parlament zur Zustimmung vorgelegt, bliebe er erfolglos, würde es ein Referendum geben. „Wenn dieses Problem im Parlament nicht gelöst wird, werden wir es dem Volk vorlegen“, sprach der türkische Präsident zuversichtlich über einen positiven Ausgang des Referendums.

Der Wandel um die Kopftuchfrage

Trotz der Säkularisierung der Türkei durch Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk, kam es zu keinem klaren Verbot des Tragens von Kopftüchern bis zu einem Militärputsch von 1980. Das Kopftuchverbot wurde in öffentlichen Einrichtungen eingeführt und betraf Universitätsmitarbeiter, Studenten, Anwälte, Politiker, Ärzte und andere im öffentlichen Dienst. Nach 2008 hob die AKP dieses Verbot schrittweise auf. 2010 konnten Studentinnen erstmals mit dem Kopftuch zur Universität. 2013 durften es Frauen in staatlichen Institutionen tragen. 2014 erhielten auch Schülerinnen die Freiheit. Seit 2015 wurde es graduell auch für Beamtinnen der Justiz, der Polizei und des Militärs möglich bei ihrer Arbeit ein Kopftuch zu tragen.

Präsidentschaftswahlen 2023 in der Türkei

Die Kopftuchfrage gilt auch als ein beliebtes Thema vor den Wahlen. Im kommenden Jahr steht die nächste Parlamentswahl in der Türkei zum 100-jährigen Bestehen der Republik an. Erdogan selbst bezeichnet es als eine historische Wahl, der er sich aus der schlimmsten Wirtschaftskrise der Türkei seit 20 Jahren zu stellen hat. Themen, welche primär die religiöse Bevölkerung betreffen, kamen ihm im Wahlkampf bislang immer zugute. So mag dies ein Versuch von Erdogan sein, den öffentlichen Diskurs von der schlechten Ökonomie zur Identitätspolitik zu verlagern. Auch die größte Oppositionspartei, die säkular ausgerichtete CHP, wurde sich nun der Wichtigkeit der religiösen Wählerstimmen bewusst. Und so kam von ihrem Vorsitzenden sogar der untypische Vorstoß für ein Gesetz zur Garantie des Tragens des Kopftuchs, was Anlassgeber für den Vorschlag zur dahingehenden Verfassungsänderung Erdogans war.

Verfassungsänderung auch gegen LGBTI+?

Noch arbeitet man den Wortlaut der Verfassungsänderung aus. Allerdings betonte Erdogan bereits „zusätzliche Änderungen“ vornehmen zu wollen, welche vor allem LGBTI+ Befürworter kritisch beäugen. Erdogans Forderungen zielten darauf ab, die Grundrechte der „Ehepartner“, die momentan in der Verfassung neutral bezeichnet sind, näher zu definieren. Die Oppositions-Zeitung „Cumhuriyet“ berichtet über Erdogans Aussage, die „Familieninstitution, die aus der Einheit von Männern und Frauen besteht“, stärken zu wollen. Auch kritisiert die Regierung den Westen, die Familienstruktur zu untergraben, indem er einigen Gesellschaften LGBTI+ Auflagen auferlegt.

Verfassungsänderungen der Türkei klares Gegenbeispiel zur politischen Agenda des Westens

Mit diesen Vorstößen schlägt Erdogan einen Kurs ein, welcher der Agenda der Westmächte entgegenschlägt. Seit Jahren wird hier politisch und medial versucht, das Kopftuch als Symbol der Unterdrückung und des Radikalismus im Bewusstsein der Menschen zu etablieren. Leider nicht selten mit Erfolg. So sehen wir auch momentan in westlichen Großstädten Proteste gegen das Kopftuch, die mehrheitlich von Menschen geführt werden, die selbst nicht zu praktizierenden Muslimen oder gar dem Islam angehören. Unter dem Vorwand des Einstehens für die Freiheit und für das Recht auf die Selbstbestimmung der Frau, nehmen sie Frauen, die sich bewusst für das Tragen des Kopftuchs entscheiden eben jene Freiheit und jenes Recht auf Selbstbestimmung.

Mit ihrer feindlichen oder ablehnenden Sicht auf das Kopftuch, erheben sie einen Deutungsanspruch über dessen Bedeutung und befeuern Vorurteile, die zu einer gesellschaftlichen Ausgrenzung von Kopftuchträgerinnen führt. Dass die westlichen Mächte diesen Vorstoß für das Kopftuch und gegen die Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Beziehungen nicht willkommen heißen, liegt auf der Hand. Doch solange gewisse Beziehungen zu einigen Mächten aufrechterhalten werden, wird es sicherlich keine Feindbild-Stigmatisierung der Türkei geben, wie es den Iran seit Jahrzehnten trifft. 

Türkei
Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan bei einem Auftritt mit seiner Frau Emine Erdogan
(Bild: APA/AFP/Adem ALTAN)