Er rief „Free Palestine“ während er niederbrannte. Aaron Bushnell war, wie er selbst in dem Livestream seines Protests sagte, ein aktiver Soldat der United States Air Force. „Ich werde nicht länger ein Komplize eines Genozids sein. Ich bin auf dem Weg, einen extremen Akt des Protests durchzuführen, aber verglichen mit dem, was die Menschen in Palästina durch die Kolonialmächte erleiden, ist dieser Akt absolut nicht extrem. Unsere Führungsklasse hat entschieden, dass dieses Vorgehen normal sein wird.“1 Die letzten Worte eines Mannes, der sich gegen das Unrecht aussprach und sich am 25. Februar 2024 vor der israelischen Botschaft in Washington anzündete.
Auch die bekannte walisische Sängerin Charlotte Church spricht sich öffentlich gegen den Krieg in Gaza und gegen die Gräueltaten der israelischen Armee aus. Die Sängerin mit weltweit über 10 Millionen verkauften Tonträgern organisierte einen Chorauftritt als Unterstützung für Palästina. In einem Interview mit Novara Media, sagt sie deutlich, dass sie sich nicht wie von englischsprachigen Nachrichtenseiten vorgeworfen, für Antisemitismus einsetze, sondern ganz deutlich zu einer Feuerpause und zu Hilfslieferungen in Gaza aufrufe.2 Britische Nachrichten wie die Daily Mail schrieben jedoch unter anderem „Die walisische Sängerin, die einen Keffiyeh Schal in Solidarität mit den Menschen in Palästina trug, wurde ebenfalls dabei erwischt „Stoppt die Besatzung“ gesungen zu haben, als sie an der Veranstaltung Samstagabend teilnahm.“
Dies bringt eine weitere Frage im Kontext dieses Krieges auf. Ist es nun verboten, das Vorgehen der israelischen Regierung und dessen Militär als Besatzung zu bezeichnen? Die Vereinten Nationen nennen die Siedlungspolitik und das militärische Vorgehen offiziell „Besatzung“.3 Spricht man sich öffentlich dazu aus und ruft zur Beendigung auf, bekommt man schnell den Stempel „Antisemit“ aufgedrückt, vor allem von den Medien der Bundesrepublik Deutschland. Sollen nun alle Menschen angesichts der erschreckenden und traumatisierenden Bilder und Videos aus Gaza schweigen und wegsehen? Können wir hinterher sagen „Wir wussten von nichts. Was hätten wir denn tun können?“
Wenn es um den Krieg in der Ukraine geht, möchte Bundeskanzler Scholz jedoch die deutsche Bevölkerung zur weiteren Unterstützung aufrütteln und eine mögliche Besatzung Europas durch Russland verhindern. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz begann er seine elfminütige Rede unter anderem mit folgenden Worten: „Täglich fordert Russlands Aggression unschuldige Opfer. Täglich wird in der Ukraine geweint, getrauert und gestorben. Und darum will ich mich in meiner Rede heute auf diesen Krieg in unserer Nähe konzentrieren.“4 Dieselben Worte gelten für den Krieg Palästina. Der Entschluss im letzten Satz ist daher umso beschämender, wenn es um internationale Sicherheitspolitik geht.
Auf der anderen Seite werden das Unrecht und die Tyrannei der derzeitigen rechten Regierung Israels im Krieg um Gaza deutlicher. Die israelische Ministerin May Golan sagte in der Knesset am 19. Februar: „Ich persönlich bin Stolz auf die Ruinen in Gaza und dass jedes Baby in 80 Jahren seinen Enkeln erzählen wird, was die Juden mit ihnen gemacht haben, nachdem sie unsere Familien ermordet haben.“5 Morde an der Zivilbevölkerung sind grausam, jedoch hatte die Bevölkerung in Gaza tatsächlich wenig mit den Ereignissen des 7. Oktober zu tun. Kann denn wirklich die Behauptung gehalten werden, dass 2,2 Millionen Palästinenser Israel überfallen haben oder war es die Hamas? May Golan ist auf jeden Fall Stolz auf die Ruinen in Gaza und darauf, dass die Palästinenser in 80 Jahren ihren Enkeln erzählen werden, dass ein Völkermord an ihnen begangen wurde.
Der Schock sitzt tief mit dem Wissen, dass in den deutschen Nachrichten nicht ein Satz über diese Aussage gefallen ist. Ist diese Aussage ebenfalls deutsche Staatsräson?
Die Trauer in Deutschland sitzt tief heute, am 19. Februar. An diesem Tag vor vier Jahren wurden neun junge Menschen in Hanau ermordet. Das Motiv des Mordes war Rassismus. Für die meisten von uns geht der Alltag normal weiter, auch wenn wir mit den hinterbliebenen trauern. Für sie ist jedoch seit vier Jahren alles anders. Nichts wird jemals so sein wie davor. Niemand kann den Opfern und ihren Familien je das Leben zurückgeben.
„Dieser Mordanschlag weckt die Politik und die Gesellschaft auf“, dachte man. „Dinge werden sich ändern“, sagte man. Doch was wurde seitdem wirklich unternommen? Übergriffe mit rassistischen Motiven sind in Deutschland eine Ausnahme, möchten einige meinen. In den Medien wird häufig nur am Rand darüber berichtet, wenn muslimische Frauen wegen ihres Kopftuchs attackiert werden. Fremdenfeindliche Übergriffe sind jedoch bei vielen der Alltag, auch wenn sie noch so klein sind. Vielmehr lesen wir in den Hauptschlagzeilen, wie schlecht sich Zuwanderer in den letzten 60 Jahren integriert haben. Als Bild der Schlagzeile eine Frau mit Kopftuch oder andere Bilder, die widerliche Klischees bedienen. Das sind keine Berichte, die in der Gesellschaft zu einem gemeinsames Wir beitragen, sondern Artikel, die die Verkaufs- und Klickzahlen der jeweiligen Zeitungen und Medien erhöhen sollen, indem sie auf die Sensationsgier der Menschen abzielen. Das Ergebnis: Nicht das Wohl der Menschen und das Gemeinschaftsgefühl der Bevölkerung wächst zusammen, sondern die Spaltung innerhalb der Gesellschaft wächst. Vielleicht sollten sich diejenigen, die an den Hebeln unseres Landes sitzen, darüber Gedanken machen, ob diese Art der Berichterstattung einen Beitrag zu Frieden leistet. Waren Medien nicht zur Aufklärung aufgerufen, die zu Zusammenhalt führt?
Wir können uns innerhalb der Bevölkerung weiter trennen und weniger als ein Wir denken. So ist es wahrscheinlich einfacher, im Falle einer Katastrophe einen Schuldigen zu finden, auf einen Feind zeigen zu können und eine mögliche Schuld, Verantwortung oder Betroffenheit von sich zu weisen. „War ein schrecklicher Einzelfall eines grausamen Rassisten, den wir verurteilen.“, könnte es dann heißen. Die Verurteilung ist einer der ersten Schritte, was ist mit der Verbesserung der Lage? Wenn man heute Kinder aus Migrationsfamilien fragt, ob sie sich tatsächlich als vollen Teil der deutschen Bevölkerung, unserer Gesellschaft sehen, wird die Antwort gelinde gesagt sicher nicht immer positiv ausfallen. Traurig, dass unsere Regierungen nach fast 65 Jahren Einwanderungsgeschichte immer noch keinen Weg gefunden haben, die die Probleme der Integration, des teilweise beidseitigen Hasses und des Rassismus ansatzweise lösen. Derzeit spürt man eher, dass sich die Probleme seit Jahren verhärten.
Heute trauert hoffentlich ganz Deutschland. Ist es eine Trauer wegen der Opfer durch ihre Familien, die nicht erlauben, dass man den Anschlag auf ihre Kinder vergisst oder ist es eine Trauer, die uns an unsere Probleme innerhalb unserer Gesellschaft erinnert und uns motiviert, diese zu lösen?
Sie waren neun Menschen von uns, unserer deutschen Gesellschaft. Gökhan, Sedat, Said, Mercedes, Hamza, Vili-Viorel, Fatih, Ferhat und Kaloyan. Man wird euch nicht vergessen. Möget ihr ewig in Frieden ruhen.
Vor knapp zwei Wochen berichtete ein palästinensischer Journalist darüber, dass die Route zur Evakuierung der Kriegszone in Khan Younis zu einem Todesmarsch wurde. Die meisten Menschen legten die 20 Kilometer in Richtung Rafah zu Fuß zurück, nachdem sie Tage und Nächte des Bombenhagels hinter sich hatten.1 Einige Menschen starben auf der Route vor Erschöpfung. Die Einzelschicksale dieses Krieges nehmen täglich zu. Für die westliche Politik und deutsche Medien scheint jedoch jeder Name eines Opfers nicht weiter als eine weitere Zahl auf der Statistik zu sein, die sie später in die Geschichtsbücher schreiben werden.
Dennoch, jede Familie erzählt ihre eigene tragische Geschichte von Tod und Vertreibung. So auch die Familie der 6-jährigen Hind Rajab. Vor zwei Wochen ging beim roten Halbmond ein Notruf ein, bei dem die 6-jährige Hind und ihre 15-jährige Cousine Layan um Rettung flehten. Hind war mit der siebenköpfigen Familie ihres Onkels auf der Flucht aus Gaza City, wobei die Familie unter Panzerbeschuss kam. Das Familienauto war, wie Angehörige hinterher berichten, von Kugeln durchsiebt. Die Chance zu überleben beim Notruf denkbar klein. Heute wissen wir, dass es keine Überlebenschance gab. Kurz nach Eingang des Notrufs erliegt ihre Cousine ihren Schussverletzungen. Die Schüsse auf das Auto sind in der Audioaufnahme des Anrufs zu hören, so auch die letzten Schreie der Mädchen.2
Kurz danach ist nur noch Hind am Leben. Drei Stunden kommunizieren Mitarbeiter des roten Halbmondes mit ihr. Unter ihnen auch Traumapsychologen. Hind liegt während des Gesprächs zwischen den toten Körpern ihrer Familie und fleht furchterfüllt und verletzt um Rettung: „Kommt und holt mich hier raus. Schickt ihr jemanden, der mich holen kommt? Ich habe Angst.“3 Ein Rettungsteam von zwei Mitarbeitern des roten Halbmondes machte sich auf die Suche nach der Überlebenden, jedoch brach nach kurzer Zeit der Kontakt zu ihr und zu dem Rettungsteam ab.
Nun ist bekannt, dass auch Hind und die beiden Mitarbeiter des Rettungsdienstes, Yusuf Zeino und Ahmed Al-Madhoun, in jener Nacht von der israelischen Armee getötet wurden. Der Rettungswagen wurde komplett ausgebrannt in Gaza City gefunden.4 Auf Anfrage des roten Halbmondes bei der israelischen Armee kam die ernüchternde Rückmeldung, dass kein solcher Fall bekannt sei.
Eine weitere Mutter, die nun den toten Körper ihrer 6-jährigen Tochter beerdigen muss, in einem Krieg, in dem die Zivilisten keinen Schutzort mehr finden, denn nun plant Israel auch Rafah teil der Bodenoffensive werden zu lassen. 1,4 Millionen Menschen sind nun in Rafah in Gefahr. Der rote Halbmond rief dazu auf, dass sie die Hilfe der internationalen Gemeinschaft brauchen, um die palästinensische Bevölkerung und die Mitarbeiter der Rettungsdienste zu schützen.
In den deutschen Medien findet man kaum Berichte über diesen tragischen Fall. Ein weiteres Beispiel dafür, wie einseitig die Berichterstattung der deutschen Medien in diesem tragischen Konflikt ist.
Der Guardian berichtete diese Woche von Mitarbeitern des amerikanischen Nachrichtensenders CNN, die ihrem Sender verzerrte Berichterstattung in dem seit dem 7. Oktober andauernden Israel-Gaza Krieg vorwerfen.
Die Mitarbeiter gewährten bei ihren Interviews mit dem Guardian tiefe Einblicke in interne Memos und E-Mails. Darin sind die Mitarbeiter angewiesen, Informationen und Berichte der palästinensischen Seite genaustens zu prüfen, während Berichte Israels ungeprüft für bare Münze genommen werden. Dieser Fakt ist besonders erschreckend, da, so der Guardian, Israels Militär eine Geschichte von Falschaussagen und übertriebenen Behauptungen nachgewiesen werden kann, die später als komplett oder teils unwahr belegt wurden.
Ein Beispiel dafür ist die von israelischen Militärs ausgehende Behauptung, dass Hamas-Kämpfer am 7. Oktober vierzig Kinder geköpft hätten. Diese Aussage wurde scheinbar ungeprüft übernommen und ebenfalls über den Sender verbreitet. So behandelte die Nachrichtensprecherin Sara Sidner dieses Thema in ihrer Sendung und stellte die ungeprüften Aussagen als bewiesene Fakten dar. Sie verwies in ihrem Bericht auf ihre Kollegin und Jerusalem-Korrespondentin Hadas Gold, die die vom Büro des israelischen Premierministers bestätigten Berichte mit emotionalen Aussagen dramatisierte. „Wie kann die Hamas diese Ereignisse verneinen, wenn wir buchstäblich Videos von diesen Kerlen, von diesen Militanten, von diesen Terroristen haben, die genau das tun, was sie angeblich nicht mit Zivilisten und Kindern tun.“. Auch der amerikanische Präsident Joe Biden sagte, dass er Bilder von geköpften Babys gesehen habe. Diese Aussage wurde kurz später zurückgenommen. Bis heute hat niemand Bilder oder Videos gesehen, die diese Aussagen stützen. Der entstandene Schaden am Ruf der Palästinenser bleibt jedoch in den Köpfen der Menschen bestehen.
Im Bericht des Guardian geht ebenfalls hervor, dass die CNN bei ihrer Berichterstattung über den Nahost-Krieg scheinbar nicht unabhängig über die Veröffentlichung ihrer Berichte entscheiden darf. Jeder Bericht muss vor Veröffentlichung von dem Jerusalemer Büro genehmigt werden. „Viele haben darauf gedrängt, dass mehr Inhalte aus Gaza alarmiert und ausgestrahlt werden. Bis diese Berichte durch Jerusalem gehen und es ins Fernsehen oder auf die Homepage schaffen, sorgen entscheidende Veränderungen – von der Einführung einer ungenauen Sprache bis hin zur Unkenntnis entscheidender Geschichten – dafür, dass fast jeder Bericht, egal wie vernichtend er auch sein mag, Israel von Fehlverhalten entlastet“ berichtet ein Mitarbeiter. Für viele Redakteure stößt diese Form des Journalismus auf Heuchelei und Unmut. „Es gibt viele interne Konflikte und Meinungsverschiedenheiten (zur Berichterstattung des Konflikts). Einige (Mitarbeiter) wollen raus“, so einige CNN-Redakteure im Interview.
In einem Memo des Editor-in-Chief der CNN, Mark Thompson, bekamen die Redakteure folgende Anweisung „von Mark“, dass sie doch besonders den Paragraphen „Leitlinie zur Berichterstattung“ berücksichtigen sollen. Darin wird darauf hingewiesen, dass über die Angriffe des israelischen Militärs und die Konsequenzen auf menschlicher Ebene berichtet werden soll. Ebenfalls wird in dem Memo kursiv hervorgehoben „Wir müssen unsere Leser stets an die unmittelbare Ursache dieses aktuellen Konflikts erinnern, nämlich den Angriff der Hamas, sowie den Massenmord und die Entführung von Zivilisten.“ Ein Paragraph, der inhaltlich ebenfalls in allen Berichten sämtlicher deutscher Nachrichtenseiten über den Israel-Gaza Krieg berücksichtigt wird und scheinbar niemals fehlen darf. Dass der Konflikt nicht am 7. Oktober 2024 begonnen hat und dass die palästinensische Bevölkerung in Gaza und im Westjordanland über die letzten Jahrzehnte hinweg täglich mit Einschränkungen, Bedrohungen und Entrechtung von Seiten des israelischen Militärs oder israelischer Siedler wird maximal nebensächlich in diesem Zusammenhang erwähnt.
Der Druck im Westen wächst, die Gegebenheiten des Krieges, das Leid des palästinensischen Volkes in Gaza und im Westjordanland neutral darzustellen und auch Verbündete bei verbrochenem Unrecht nicht nur sanft zu kritisieren, sondern notfalls auch zur Rechenschaft zu ziehen. Das wäre im Sinne der Philosophie: Nie wieder!
Seit wenigen Tagen ist die Feuerpause beendet, um die sich Katar und Ägypten durch Verhandlungen bemüht hatten. Bei einer UN-Resolution, bei der zu eine „sofortige, dauerhafte und anhaltende humanitäre Waffenruhe“ sowie den „ununterbrochenen, ausreichenden und ungehinderten“ Zugang von lebensrettenden Gütern und Dienstleistungen für die Zivilisten, die in der Enklave eingeschlossen sind, gerufen wurde,[1] stimmten 14 Länder gegen eine Feuerpause, unter anderem Österreich, Tschechien, Ungarn und Kroatien. 44 Länder enthielten sich, unter anderem Deutschland, Ukraine und Polen. Für eine sofortige Feuerpause stimmten 121 Länder, unter anderem die Schweiz, Liechtenstein und Luxemburg.[2] Die Abstimmung fand am 27. Oktober 2023 statt und war eine formelle Reaktion der Vereinten Nationen auf die Eskalation der Gewalt seit dem 7. Oktober.
An jenem Tag erklärte die Hamas Israel den Krieg und feuerte mindestens 3000 Raketen vom Gazastreifen aus ab.[3] Sie drangen auch in die israelischen Siedlungen ein und nahmen Geiseln. Ein Anführer der Hamas, Mohammed Deif, sagte, der Angriff sei eine Reaktion auf die 16-jährige Blockade des Gazastreifens, die israelischen Militäroperationen im Westjordanland im letzten Jahr und die eskalierende Gewalt in Al Aqsa durch die israelischen Soldaten und Siedler.[4] Die Israelische Armee reagierte, wenn auch etwas zeitversetzt, mit massiven Luftangriffen auf Gaza, die zahlreiche zivile Opfer forderten und die Infrastruktur zerstörten. Die Gewalt breitete sich auch auf das Westjordanland, Ostjerusalem und die nordisraelisch-südlibanesische Grenze aus. Laut der UN sind über 1,82 Millionen Menschen innerhalb des Gazastreifens auf der Flucht.
Laut dem Büro der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) liegt die Zahl der getöteten Palästinenser mittlerweile weit über 15.000, von denen 70% Frauen und Kinder sind und über 40.000 Verletzte.[5] Die Erfassung der Zahl der getöteten Palästinenser erweist sich als herausfordern, wenn man sich auf die deutschen Medien bezieht. Es herrscht entweder eine kontroverse Debatte darüber, wie glaubwürdig die Zahlen sind, oder es wird sehr verhöhnend von einer „hohen Zahl an Toten und Verletzten“ gesprochen. Die Würdigung der Kriegsopfer ist ein wesentlicher Aspekt der Menschenrechtspraxis, die die Grundlage des deutschen Grundgesetzt darstellt. Die Würdigung der Menschenrechte manifestiert sich auch in der Angabe der Anzahl der Opfer. Gemäß dem internationalen Völkerrecht sind die Identifizierung und Registrierung von Toten sogar vorgeschrieben.
Ferner ist eine derartige Situation ein Hindernis für eine objektive und ausgewogene Berichterstattung über den Krieg und ein Beweis für ein gänzlich fehlendes palästinensisches Narrativ. Wiederum ist das Schweigen über die palästinensische Geschichte, Identität und Rechte eine Form der Unterdrückung, Diskriminierung und Kriminalisierung der Palästinenser und verletzt die grundlegenden Prinzipien des Journalismus, weil sie nur eine einseitige Berichterstattung ermöglicht.
Auch die Struktur der Berichterstattung unterscheidet sich, wenn über den Krieg gesprochen wird. Das zeigt sich deutlich an einem der neuesten Artikel des Auswärtigen Amts, dass Reiseinformationen beinhaltet. Am 30. November 2023 heißt es bereits in der Überschrift, dass „mehr als 1.200 Menschen getötet“[8] wurden, wobei sich die Zahl auf die israelischen Opfer bezieht und seit dem 7. Oktober unverändert ist. Im nächsten Absatz wird diese Zahl wiederholt und zusätzlich die 200 Geiseln erwähnt, die von der Hamas festgehalten werden. Erst im letzten Absatz des Artikels findet sich eine knappe Erwähnung der palästinensischen Seite, die besagt, dass „die humanitäre Lage in Gaza katastrophal ist. Es gibt tausende Tote und Verletzte.“[9] Dabei wird keine präzise Zahl genannt und auch nicht klar gemacht, dass diese Menschen durch israelische Angriffe getötet wurden, sondern lediglich, dass sie tot sind. Bei einer allgemeinen Suche auf der Seite der Bundesregierung nach der Zahl 1200 werden 56 Ergebnisse angezeigt und lediglich die israelischen Opfer betreffen. Hingegen gibt es keine ansatzweisen Schätzungen zu den palästinensischen Opferzahlen, die nach Angaben der Vereinten Nationen schon mehr als 10.000 betragen.
Journalisten, die sich um eine palästinensische Perspektive bemühen, werden bedroht oder getötet. Das Komitee zum Schutz von Journalisten zählt für diesen Krieg bereit 61 getötete Journalisten durch Israel, davon sind 54 palästinensischer, 4 israelischer und 3 libanesischer Herkunft. Laut dem Komitee handelt es sich um den tödlichsten Monat für Journalisten, der jemals aufgezeichnet wurde. Hinzu kommen 19 Verhaftungen von Journalisten.[6] Auch die Organisation Reporter ohne Grenzen ruft den Internationalen Strafgerichtshof auf, wegen Kriegsverbrechen zu ermitteln und hat bereits Strafanzeige erstattet.[7]
Es ist ferner laut deutscher Medien nicht erlaubt und „antisemitisch“[10], den anhaltenden Krieg gegen Gaza als genozidal zu beschreiben, obwohl die UN vor einem möglichen Völkermord durch Israels Handlungen im Gazastreifen warnt. Sie beziehen sich unter anderem auf die öffentlichen Aufrufe zur Vernichtung der Palästinenser, absichtliche Aushungerung und die Zerstörung lebensnotwendiger Infrastruktur in Gaza. Dabei fordern 19 UN-Sonderberichterstatter um sofortiges Eingreifen.[11]
Ein schwerwiegendes Kriegsverbrechen, das Israel begangen hat, ist die Zerstörung von medizinischen Einrichtungen, die einen klaren Verstoß gegen die Genfer Konventionen darstellt. Diese Konventionen schützen die Zivilbevölkerung und das medizinische Personal in Kriegszeiten und verbieten Angriffe auf Krankenhäuser, Ambulanzen und andere Gesundheitsdienste. Ein Beispiel dafür ist das Bombardement des al-Ahli Krankenhauses in Gaza am 17. Oktober. Dieses Ereignis erregte internationale Aufmerksamkeit, weil es zunächst unklar war, wer dafür verantwortlich war. Über die restlichen Zerstörungen von medizinischen Einrichtungen in Gaza gab es jedoch kaum mediale Aufmerksamkeit, obwohl die humanitäre Situation dort katastrophal ist. In einem neuesten Artikel von „The Guardian“ werden mehr als 200 Beweise, darunter Videos, Fotos, Nachrichtenaufnahmen und Satellitenbilder vom 21. Oktober bis zum 11. November analysiert und aufgezeigt, die verursachte Schäden durch die Israelische Armee an 10 Krankenhäusern und Gesundheitseinrichtungen im Gazastreifen untersuchen. [12]
Die deutschen Medien zeigen sich realitätsfremd, als ob sie keinen Zugang zu internationalen Nachrichtenquellen hätten. In einem Artikel über den UN-Vorwurf, dass Israel Kriegsverbrechen begehe, heißt es: „Wenn sich ein Staat wehre, gebe es zwar völkerrechtliche Spielregeln, diese Spielregeln halte Israel aber absolut ein, was auch führende deutsche Völkerrechtler bestätigt hätten.“[13] Diese Aussage ignoriert jedoch die zahlreichen Beweise und Berichte, die das Gegenteil nahelegen, die unter anderem oben genannt wurden.
Eine differenziertere Debatte findet in Großbritannien statt, wo die Medienberichterstattung über den Israel-Palästina-Konflikt kritischer und ausgewogener ist. Eine Studie des Muslim Council of Britain’s Centre for Media Monitoring (CfMM) kritisierte gewisse Wörter im Zusammenhang mit einer gleichmäßigen Berichterstattung wie z.B. die Verwendung von Begriffen wie „Räumung“ oder „Eigentumsstreit“, um die illegalen Siedlungspläne in Sheikh Jarrah (Ostjerusalem) zu beschreiben, sowie die Verwendung von Begriffen wie „Zusammenstöße“ und „Konflikt“, um die Gewalt in der Al-Aqsa-Moschee zu beschreiben.[14]
Um die Sichtbarkeit der palästinensischen Narrativen zu erhöhen, gibt es mehrere Ansätze. Ein möglicher Ansatz ist die Unterstützung und der Schutz der palästinensischen Journalisten und Medienunternehmen, die von den israelischen Behörden und Siedlern Zensur und Gewalt ausgesetzt sind. Diese Journalisten und Medien bieten eine alternative und authentische Informationsquelle zur Lage und den Perspektiven der Palästinenser. Ein weiterer Ansatz ist die Erleichterung des Zugangs und des Austauschs von palästinensischen Journalisten und Medien mit westlichen Journalisten und Medien, die sich häufig auf israelische Quellen und Erzählungen stützen. Diese Journalisten und Medienunternehmen würden von der Zusammenarbeit und der Vielfalt der palästinensischen Journalisten und Medienunternehmen profitieren und eine umfassendere und differenziertere Berichterstattung über den Krieg bieten.
Für Deutschland ist es wichtig, den Nahostkonflikt und seine Geschichte aus verschiedenen Perspektiven zu verstehen. Die Sichtweise ist immer auch – bewusst oder unbewusst – geprägt von den etablierten Diskursen und historischen Großnarrativen über die Zeit des Nationalsozialismus. Diese beeinflussen sich zum Konflikt im Nahen Osten äußern zu können oder zu dürfen. Oftmals dominiert hier eine moralische Haltung, die sich nicht aus einer differenzierten Sachkenntnis, sondern aus einem unhinterfragten Wertekanon ergibt. Diese Moral ist jedoch oberflächlich und leer. Vielleicht hilft der Blick auf die zwei Narrative aus Israel und Palästina, um auch in Deutschland weniger moralisierend und mit mehr Sachkenntnis das eigene Großnarrativ weiterzuentwickeln.
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