Menschenrechtsorganisationen und Journalisten fassten zum Jahresende teils unabhängig voneinander zusammen, dass das Kalenderjahr 2022 das zahlenmäßig tödlichste Jahr für die Palästinenser im Westjordanland seit der Zweiten Intifada war. Die Mehrheit der Opfer waren Zivilisten. Darunter Frauen und 48 Kinder. Auch Journalisten, so wie die in der arabischen Welt hochgeschätzte Reporterin Shireen Abu Akleh, fielen der Gewalt der israelischen Besatzungsmacht zum Opfer.

2022 ist das tödlichste Jahr seit 2005

Eine Höchstzahl von mindestens 220 Menschen seien bei israelischen Angriffen im Jahr 2022 in den besetzten Gebieten gestorben, darunter 48 Kinder. Von der Gesamtzahl der Todesopfer stammten 167 aus dem Westjordanland und Ostjerusalem und 53 aus dem Gazastreifen. Zudem töteten sie im gleichen Zeitraum weitere fünf palästinensische Bürger des Staates Israel. In mindestens fünf Fällen verdächtigte man Siedler, Palästinenser getötet zu haben, während die Besatzungsarmee für die überwältigende Mehrheit der Todesfälle verantwortlich ist. Nach UN-Angaben haben sie im gleichen Zeitraum fast 9.500 Palästinenser aus dem Westjordanland verletzt.

UN-Resolutionen können Gewalt nicht stoppen

UN-Experten halten fest: „Bewaffnete und maskierte israelische Siedler greifen Palästinenser in ihren Häusern an, greifen Kinder auf dem Weg zur Schule an, zerstören Eigentum und brennen Olivenhaine ab und terrorisieren ganze Gemeinden völlig ungestraft“.

Die Zahl der Angriffe israelischer Siedler im besetzten Westjordanland nehme seit sechs Jahren kontinuierlich zu, trotz einer Resolution des UN-Sicherheitsrates von 2016, die ausdrücklich darauf abzielt, die Siedlungsaktivitäten zu stoppen. Über die entschieden aggressivere Siedlungspolitik, welche die aktuelle Regierungskoalition Israels umsetzen möchte, haben wir kürzlich geschrieben. Eine Eindämmung der Siedlungsaktivitäten liegt politisch ebenso fern, wie die Aussicht auf autonomes, palästinensisches Land. Auch dies ist den UN-Experten bewusst:

„Beunruhigende Beweise dafür, dass israelische Streitkräfte häufig Siedlerangriffe erleichtern, unterstützen und daran teilnehmen, machen es schwierig, zwischen israelischen Siedlern und staatlicher Gewalt zu unterscheiden. Die Straflosigkeit des einen wird durch die Straflosigkeit des anderen verstärkt.“

Israel verletzt jährlich mehrere international geltende Rechte

Der Einsatz von Schusswaffen durch staatliche Sicherheitskräfte ist laut internationalem Menschenrechtsgesetz nur gegen Personen erlaubt, bei denen eine unmittelbare Gefahr für das Leben oder für eine schwere Verletzung besteht. Bei der israelischen Besatzungsarmee setzt sich immer stärker die „Shoot-to-kill“-Politik durch. So seien auch unter den 2022 Getöteten in mindestens 95 Fällen jene gewesen, die von israelischen Besatzungssoldaten als Anwesende bei Armeerazzien oder bei der Teilnahme an Demonstrationen gegen die Besatzung erschossen worden. Zudem ergaben Analysen, dass die Mehrheit der Opfer unbewaffnete Zivilisten waren.

Diese Anwendung tödlicher Gewalt als erstes und nicht als letztes Mittel gegen Palästinenser, die keine unmittelbare Bedrohung für das Leben oder eine ernsthafte Verletzung darstellen, ist einer außergerichtlichen Hinrichtung gleichzusetzen. Sie verletzen das Recht auf Leben von hunderten Palästinensern und ignorieren das Verbot der vorsätzlichen Tötung. Die Morde bleiben unbestraft. Die israelische Rechtsgruppe „Yesh Din“ veröffentlichte, dass weniger als ein Prozent der Soldaten, die zwischen 2017 und 2021 beschuldigt wurden, Palästinensern Schaden zugefügt zu haben, jemals eines Verbrechens angeklagt wurden. Hierfür werde vonseiten der militärischen Strafverfolgungsbehörden systematisch vorgegangen.

Das internationale Schweigen

Das Schweigen der vermeintlichen „Verfechter von Menschenrechten“ aus westlicher Politik und Öffentlichkeit zu dieser jährlich ansteigenden, tödlichen Gewalt gegenüber den Palästinensern, ist ein weiterer Beweis ihrer Doppelmoral. Während der Tod eines einzelnen Menschen in einem anderen Land, dem gegenüber man politisch oppositionell gestimmt ist, wochenlang als Topthema in den Medien gehalten werden kann – wo plötzlich jeder sonst so unpolitische Mensch sich als Verteidiger der Freiheit und Menschenrechte öffentlich positioniert und eine zu teilende Meinung hat– trifft die nahezu tägliche vorsätzliche Tötung eines palästinensischen Menschen im Apartheidsstaat Israel auf ein schmerzhaftes Schweigen. Besser gesagt: Verschweigen.

Der israelische Staat und seine kriminelle Regierungsspitze werden von den Westmächten als einzige Demokratie des Nahen Ostens gepriesen und als Verbündete vorgeführt. Und mit der zunehmenden Gewalt, welche von dem Besatzerstaat ausgeht, steigen die Bemühungen der zionistischen Lobby, die wenige Kritik an diesen Verbrechen unter dem Vorwand des Antisemitismus mundtot zu machen. Es braucht mehr mutige Menschen auf internationaler Ebene, die sich nicht vom Unrecht einschüchtern lassen.

2022